Dr. Christina Lanzl
Seit 1998 schweißt der Bildhauer Roxy Paine (geb. 1966) lebensgroße Baumskulpturen aus Edelstahl. Damit verlässt er den Galerieraum, den er als Bühne für künstliche Tableaus unkrautüberwucherter Gemüseparzellen (Weed Choked Garden, 1998-2006 (Abb. 1) oder Giftpilzplantage (Amanita Muscaria Field, 2000) benutzte, oder um Maschinen wie den Paint Dipper (1996) (Abb. 2) oder den SCUMAK (Auto Sculpture Maker) (1998) (Abb. 3) vorzuführen. Letztere produzieren eigenständig Gemälde und Skulpturen. Paines neu entwickelte Baumskulpturen aus Stahl stehen im Spannungsfeld zwischen Natur und einer künstlichen Umwelt. Damit setzt er die Themenstellung seines Frühwerks fort. Grundsätzlich schafft Roxy Paine künstliche Objekte, entweder um Natur zu imitieren, oder um maschinell Kunst zu produzieren. Von Interesse für das Forschungsgebiet der Kunst im öffentlichen Raum ist Paines Entwicklung vom Innen- zum Außenraumkünstler ab 1998. Welche Evolution fand in seinen Werken und innerhalb der künstlerischen Prozesse statt, die den Bogen von Tableaus und Maschinen im Innenraum zu großformatigen Edelstahlskulpturen im Außenraum spannt?
Stand der Forschung
Die umfangreiche Literatur zu Roxy Paine, seit 1994 in kunsthistorisch relevanten Quellen erschienen, besteht aus einer Reihe von Monografien und Ausstellungskatalogen, sowie zahllosen Essays, Interviews, und Rezensionen. Paine äußert sich zu seinem Werk in einer Reihe von umfangreichen Interviews, u.a. in Gesprächen mit Castro[1] (2006), Williams und Tsien[2], sowie Rosenbaum-Kranson[3] (beide 2009). Relevant für die Großskulpturen sind mehrere Monografien und Kataloge. Ausgezeichnet dokumentiert ist die Baumskulptur Bluff in der von Anne Wehr herausgegebenen, gleichnamigen Monografie (2004), die nach der Ausstellung im Rahmen des Whitney Biennial von 2002 erschien.[4] Eleanor Heartney’s Publikation aus dem Jahr 2009 stellt die erste umfangreiche Dokumentation des gesamten Oeuvres vor.[5] Die Maelstrom-Installation am Metropolitan Museum of Art wurde in den einschlägigen Fachzeitschriften umfassend rezensiert und behandelt, u.a. von Gregory Volk in Art in America (2010)[6] und Meredith Mendelsohn in Art and Auction (2009)[7]. In Deutschland fand Roxy Paines Tableau Crop (1998) Eingang in die vom Kunstmuseum Bonn organisierte Ausstellung Ferne Nähe: >Natur< in der Kunst der Gegenwart (2009).[8]
Die Dendroide: Perspektiven einer erstarrten Natur
Roxy Paine realisierte die beiden ersten Baumskulpturen in Schweden und Spanien: Impostor (1998) (Abb. 4) und Transplant (2001) (Abb. 5). Im Jahr 2002 wurde Paine im Rahmen des Whitney Biennial eingeladen einen Edelstahlbaum für die Ausstellung monumentaler Skulpturen im Central Park zu schaffen, den er Bluff (Abb. 6) nannte. Auf der Dachterrasse des Metropolitan Museum of Art gastierte der Künstler im Jahr 2009 mit Maelstrom (Abb. 7). Die Stadt San Francisco gab im Frühjahr 2013 das Werk Node (Abb. 8) in Auftrag, ein 1,5 Mio. Dollar-Projekt, das zur Eröffnung der Central Subway durch die öffentliche Verkehrsbehörde fertiggestellt werden soll.
Paine nennt seine Bäume Dendroide, abgeleitet aus dem Griechischen dendron, „Baum“ und „oid“, der Nachsilbe mit der Bedeutung „Form“. Irreführend ist Kaufmanns (2010) Einführung einer weiterführenden Begrifflichkeit, [10] da dendron sowieso als Verzweigungssystem bzw. zoologisches Klassifikationsschema bekannt ist. Die Dendroide sind also im Zusammenhang systematischer Strukturen definiert. Mit diesem Ansatz wird die fachübergreifende Auseinandersetzung in Bezug auf das Werk nicht nur ermöglicht, sondern ausdrücklich veranlasst. Tatsächlich bindet Paine sich nicht spezifisch an die biologische Form, sondern weist auf seine künstlerische Auseinandersetzung mit einer weitgreifenden, über den Baum hinausreichenden Thematik hin. Damit werden zum einen gestalterische Prägungen erleichtert und zum anderen inhaltliche Horizonte erweitert. Paines Dendroiden stehen als Metapher für strukturelle Prinzipien, nicht als reiner Bildinhalt. Synonym fungieren die Dendroide als Subjekt, philosophische und wissenschaftliche Eigenschaften bzw. Themen auszuloten. Des weiteren reduziert Paine mit dem neuen Auftragswerk Node (Edelstahl, 37 m, Central Subway Yerba Buena/Moscone Station, San Francisco) den Baum auf eine Linie, gemäß der Definition von Dendroid als Prinzip. Die „zweidimensionale“ Linie repräsentiert eine Verkehrsader.[10]
Materialität
Edelstahl ist ein Material der Industrie und Architektur, womit die Skulpturen die Verbindung zwischen menschlichem Schaffen und Natur herstellen. Kongruent mit dieser Interpretation zitiert Siegel (2009) die Definition von Maelstrom (Abb. Maelstrom, Metropolitan Museum Roof Garden, 2009): "[...] a forest downed by an enormous destructive force, both natural and man-made; the force itself, churning and violent; the trees in the process of becoming abstract; a factory pipeline run amok; and a mental storm, like the electric pulses that run through the brain during epileptic seizures."[11] Damit steht Kunst symbolisch im Brennpunkt zwischen Mensch, Umwelt und Technik. Alle Drei kollidieren mit dem potentiellen Chaos natürlicher Prozesse und hinterfragen damit unser Verständnis von Ordnung und Kontrolle. Alle Prozesse beinhalten das Element des Zufalls. Paine zeigt Veränderung durch Störungen bildlich auf, hier als umgestürzten Baum. Paines Dendroide aus Edelstahl bereichern die Außenanlagen einer Reihe von Museen, u.a. die National Gallery of Canada in Ottawa und in den Vereinigten Staaten das Crystal Bridges Museum in Arkansas oder das Modern Art Museum of Fort Worth in Texas.
Die Materialität der Dendroide stellt den Zusammenhang zwischen Industrie und Natur her, in der ikonografischen Deutung durchgängig interpretiert u.a. von Wehr (2004)[12], Heartney (2009) [13] und Volk (2010)[14] als Fusion von Technologie und Natur, Humanität und Stereotypie. Bluff (Abb.), (Deutsch „Täuschung“) repliziert nicht nur Natur, sondern das physische Umfeld stellt eine komplexe Frage über Natur in urbanen Zentren, ausgezeichnet dargelegt von Mittelbach und Crewdson (2004): "Paine’s sleight of hand is fitting, for Central Park is itself a bluff. Not only is it artificial – with its man-made ponds, meadows, and woodlands – it’s fllled with visual tricks [...] calculated to create the apparition of a rural landscape in the middle of the city, faking out residents so that they might temporarily have some relief from the urban onslaught."[15]
Fazit
Die systematische theoretische Auseinandersetzung des Künstlers als Basis für das Werk ist grundsätzlich ein Merkmal der Avantgarde. Im 21. Jahrhundert rücken Künstler Kunst, Natur und Umwelt als künstliches Konstrukt ins zentrale Blickfeld unserer typisch urbanen Lebenswelt. Zentrales Anliegen Roxy Paines sind Strukturen, Wachstumsprozesse bzw. die fortschreitende Veränderung. Paines „erstarrte Natur“ aus Stahl bietet ein eindringliches Zeitzeugnis zum Stand der Dinge in der zivilisierten Welt. Die blendende Schönheit des Metalls und seiner perfektionierten Verarbeitung verführen die Sinne. Zugleich schaffen die inhärenten Schwächen wie Brüche, Pilzbefall und andere Elemente ein existenzielles Unbehagen. Paines Dendroide, durchgängig blattlose Laubbäume bzw. Baumformen, stehen als Metapher für zentrale, zeitgenössische Anliegen in Kunst und Gesellschaft: Die Beziehung zwischen Kunst und Natur, Kunst und Technologie, Vergänglichkeit und Tod. Diese Thematik untermauert die Dringlichkeit des Themas für die künstlerische Avantgarde der USA.
Anmerkungen
[1] Jan Garden Castro, "Collisions: A Conversation with Roxy Paine," Sculpture 25, no. 4 (May 2006).
[2] Tod; Tsien Williams, Billie, "Roxy Paine," Bomb, no. 107 (Spr. 2009). 38-45.
[3] Sarah Rosenbaum-Kranson, "Roxy Paine," MuseoMagazine (2009).
[4] Anne Wehr, ed. Bluff (New York: Public Art Fund, 2004).
[5] Eleanor Heartney, Roxy Paine (New York: Prestel Publishing, 2009).
[6] Gregory Volk, "Roxy Paine," Art in America (Oct. 2010). 137-143.
[7] Meredith Mendelsohn, "In the Studio: Roxy Paine," Art and Auction (Feb. 2009). 34-40
[8] Volker Adolphs, Ferne Nähe: >Natur< in der Kunst der Gegenwart (Bonn: Kunstmuseum Bonn, 2009).
[9] "Sculpture by Renowned Artist Roxy Paine Coming to San Francisco," (San Francisco: San Francisco Arts Commission, Apr. 2, 2013).
[10] Jason E. Kaufman, "Roxy Paine’s Metal Trees Are Flourishing," in Artinfo (Louise Blouin Media, Jul. 27, 2010).
[11] Miranda Siegel, "The Annotated Artwork: 'Maelstrom'," New York Magazine (April 26, 2009).
[12] Wehr, Bluff. 56.
[13] Eleanor Heartney. „The Machine and the Garden“. In: Heartney, Roxy Paine. 21.
[14] Volk, "Roxy Paine." 143.
[15] Margaret Mittelbach; Michael Crewdson. „Sylvan Artists“ in Wehr, Bluff. 63-64.